Ich weiß nicht, wann die Angst in mein Leben getreten ist. Vermutlich war sie immer schon da.
Eine frühe Erinnerung betrifft die Magenkrämpfe, die ich als Kind bekommen habe, sobald ich ein Geschäft betreten wollte (um mir z.B. Süßigkeiten zu kaufen).
Wie die meisten Kinder liebte ich Süßigkeiten. Es bedurfte mir aber großer innere Anstrengungen diese zu kaufen. Meine Innereien verkrampften dermaßen, dass ich es oft sein ließ und verängstigt und verwirrt weggelaufen bin. Danach stellte sich manchmal, nicht immer, Erleichterung ein, so als hätte ich mich aus einer gefährlichen Lage gerade noch befreien können.
Dabei wollte ich nur eine Tafel Schokolade in einem Supermarkt kaufen. Es war mir oft nicht möglich.
Diese Angst hat mich bis zum heutigen Tag nicht verlassen.
Sie war dabei, als ich trotz guter kognitiver Fähigkeiten reihenweise Schulen nach kurzer Zeit beendet habe, deren Aufnahmeprüfungen ich mit Leichtigkeit bestanden hatte.
Sie war die Konstante bei der Unfähigkeit, über längere Zeit (länger als ein paar Wochen) einer Tätigkeit und einem geregelten Tagesablauf nachzugehen.
Sie hat mich begleitet bei Depression und Panikattacken.
Sie war ein treuer Freund in den 20 Jahren Alkoholismus, die ich hinter mir habe, zum Schluss war sie mein Letzter.
Wenn sie sich fragen, warum ich mir keine Hilfe geholt habe oder sie, wenn sie mir angeboten wurde (und das ist geschehen), nicht angenommen habe, so kann ich nur sagen, ich weiß es nicht.
War es Stolz, Hochmut, oder vielleicht wieder die Angst selbst?
Darüber bin ich mir nicht im Klaren.
Ich weiß nur, dass ich erst ganz unten, obdachlos und ohne einen Cent Bargeld dastehen musste, bevor ich Hilfe überhaupt angenommen habe. Vorher versuchte ich, meine Probleme mit Alkohol, zu lösen. Überraschenderweise hat das nicht funktioniert.
Das war vor fünf Jahren. Seitdem ist einiges geschehen.
Durch diverse Stationen der Obdachlosenhilfe habe ich eine eigene Wohnung bekommen.
Mit Hilfe des PSD habe ich mich mit meinen psychischen Erkrankungen (Depression, soziale Phobie, Panikattacken) erstmals in meinem Leben auseinandergesetzt, und so begonnen, mich selber besser verstehen zu lernen.
Nebenbei habe ich dabei meinen Alkoholismus (und meine Nikotinsucht) zurückgelassen. Falls sie mich fragen, wie ich das gemacht habe. Nun, ich bekam ein Antidepressivum und auf einmal war der, vorher übermächtige Zwang zu trinken, weg. Das hat mich überrascht. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht geglaubt, jemals vom Alkohol wegzukommen. Und auf einmal war dieses Bedürfnis, dieser Zwang, verschwunden!
Drei Wochen, nachdem ich zu trinken aufgehört habe, bin ich zum Nichtraucher geworden, das war wohl der Angst vor der Ironie des Lebens geschuldet. Ein trockener Alkoholiker, der an einem Herzinfarkt aufgrund seiner Nikotinsucht stirbt, so wollte ich nicht enden.
Wenigstens hierbei war die Angst hilfreich.
Seit zwei Jahren nun bin ich als betreuter Mitarbeiter, wie der Terminus lautet, bei dem Verein LOK Couture in einer Tagesstruktur eingebunden. Das ist die längste Zeitspanne seit der Pflichtschule, die ich einer Tätigkeit nachgehe.
Die Betätigung bei LOK tut mir gut, die Kollegen und die Betreuer sind nett, aber es fehlt mir etwas.
Ich möchte nicht bis zum Rest meines Lebens als arbeitsunfähig gelten. Diese Zuschreibung habe ich nach einem Test des BBRZ vor vier Jahren erhalten.
Einschub: In diesen fünf Jahren habe ich viele Menschen in Hilfsstellen, Vereinen, und Behörden getroffen, die ehrlich bemüht waren, anderen Menschen (z.b. mir) zu helfen, um ihr Leben besser zu meistern. Ich möchte mich bei all diesen Menschen herzlich bedanken. Sie sind das Salz der Erde.
Und ich habe einige wenige getroffen, auf die das, meiner Meinung nach, nicht zutrifft.
Ich denke, dass ich klug und stabil genug bin, um meinem Leben eine neue Seite hinzufügen, auch wenn ich weiß, dass das mit 43 Jahren, ohne Berufsausbildung und ohne nennenswerte Erfahrungen am Arbeitsmarkt, nicht gerade leicht wird.
Meine Angst wird mich dabei nicht verlassen, aber ich glaube, dass ich mit ihr mittlerweile aufgrund meiner persönlichen Entwicklung, besser umgehen kann.
Ich habe nicht mehr vor, davonzulaufen.